Einer der beliebtesten freiheitsfeindlichen Sprüche unserer Zeit ist „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“. Er wird fälschlicherweise Immanuel Kant (1724-1804) zugeschrieben, wurde jedoch später geprägt, [Quelle].
Falschzitat hin oder her: bei seiner Entstehung im 19. Jahrhundert konnte der Spruch noch differenziert betrachtet werden. Im heutigen politischen Kontext dagegen stellt er eine totalitäre Aussage dar. Denn zur Entstehungszeit des Spruchs gab es noch keinen so umfangreichen Staat, der hätte versuchen können, ihn als Rechtfertigung für einen nicht enden wollenden Katalog von Eingriffen in das Leben und die Freiheit jedes Einzelnen heranzuziehen, in diesem Ausmaß erst möglich durch die Methoden des 21. Jahrhunderts in Medien und Verwaltung.
Unser (auch unter Merkel und wahrscheinlich auch in der nächsten Legislaturperiode) linksgrün geprägter Staat betreibt diese Eingriffe zunehmend enthusiastisch, und oft genug unter Rückgriff auf den Pseudo-Kant-Spruch! Bei Corona-Maßnahmen sind diese angeblichen „Anderen“, deren Freiheit gemäß hypothetischer Schreckensszenarien verteidigt werden soll, sämtliche Leute, die in irgendwelchen hypothetischen Hochrechnungen hypothetisch schwer erkranken könnten, beim Klimaschutz sind diese angeblichen „Anderen“ sogar noch nicht einmal geboren. So urteilte das Bundesverfassungsgericht! (Ich schrieb dazu bereits [hier]).
Ich muss dabei an einen Satz von George Orwell denken, der die Anfänge einer Schreckensherrschaft der Salonkommunisten schon vor über 80 Jahren kommen sah.
Dieser, obwohl selbst ziemlich links, regte sich, nachdem er sich Anfang 1936 für eine Buchrecherche die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Kohlekumpel in Nordengland angesehen hatte, im resultierenden Werk „The Road to Wigan Pier“ (1937, Deutsch „Der Weg nach Wigan Pier“) zum Missfallen seines akademisch linken Verlegers nicht nur über die beobachteten Zustände auf, sondern auch über eben diese akademisch gebildeten Salonkommunisten, die zwar sehr von ihrer moralischen Überlegenheit überzeugt waren, aber völlig unfähig oder auch unwillig, für die Kohlekumpel irgendetwas zu ändern. Unter anderem schrieb er:
“The underlying motive of many Socialists, I believe, is simply a hypertrophied sense of order. The present state of affairs offends them not because it causes misery, still less because it makes freedom impossible, but because it is untidy; what they desire, basically, is to reduce the world to something resembling a chess-board.”
„Das zugrundeliegende Motiv vieler Sozialisten ist, glaube ich, einfach ein übersteigerter Ordnungssinn. Der Status Quo stört sie nicht, weil er Leid verursacht, weniger noch, weil er Freiheit unmöglich macht, sondern weil er so unordentlich ist, wonach es ihnen im Prinzip verlangt, ist, die Welt etwas zu reduzieren, das einem Schachfeld ähnelt“. (Anmerkung: meine Übersetzung)
Genauso das trifft das Freiheitsverständnis unseres heutigen linksgrünen Staats und seiner Anhänger in der Wissenschaft, den Medien und der Bevölkerung: Jeder Mensch hat sein kleines Quadrat auf einem Schachfeld, das ist seine „Freiheit“, aber sobald er diese Grenzen überschreite, beträte er zwangsläufig das kleine Quadrat von jemand anderem, schränke diesen (bzw. dessen Freiheit) also ein.
Die Linksgrünen gehen vom „Erbärmlichsten Anzunehmenden Menschen“ aus
Dieser Vorstellung liegt ein abgründiges Bild menschlicher Interaktion zugrunde, das ich in zwei Modellvorstellungen erklären möchte. Die erste Modellvorstellung ist das Schneeflockenmodell. Demzufolge ist jeder Mensch eine einzigartige Schneeflocke (im englischsprachigen Raum bekannt als „unique snowflake“), aber sobald sie sich mit anderen Menschen reiben würde, würde der Schnee quasi verharschen, die Menschen also ihre Einzigartigkeit verlieren. Daher müsste der Staat einspringen und die Schneeflocken voreinander schützen.
So sehen Linksgrüne die „unregulierte“ zwischenmenschliche Interaktion ganz allgemein: Als gefährliche, zerstörerische Reibung.
Im konkreten Fall wird normalerweise noch ein Aggressor gesucht, was immer derjenige ist, der in der jeweiligen Situation aktiver ist, also mehr Initiative, Freiheit und Eigenverantwortung zeigt.
Um das zu erklären, hier das zweite Modell: Ich nenne es das Modell von „erbärmlichsten anzunehmenden Menschen“ (EAM).
Der erbärmlichste anzunehmende Mensch kann gar nichts und macht gar nichts, er wartet nur darauf, dass der Staat (oder jemand, der durch den Staat dahingehend reguliert oder gezwungen wird) etwas für ihn macht. Wenn irgendjemand, der nicht der Staat ist, eine Handlung ergreift, leidet der EAM darunter unendlich, und das wortlos, denn er ist so schwach, dass er alles wehrlos hinnehmen wird. Diese unmenschliche Hilflosigkeit wird normalerweise so erklärt, dass der EAM jeder Menge „benachteiligter Minderheiten“ gleichzeitig angehört. Er ist sogar so schwach, dass er nicht einmal selbst nach dem Staat rufen wird, um ihn vor dem bösen Aggressor zu retten, nein, der Staat muss entweder seine Gedanken lesen oder selbstberufene Aktivisten müssen für ihn sprechen.
Im abgründigen Menschenbild der Linksgrünen ist jeder Mensch so lange ein EAM, bis er es wagt, eigenverantwortlich zu handeln, dann wird er sofort zum „schlimmsten anzunehmenden Aggressor“ (SAA), da er es gewagt hat, sein staatlich zugewiesenes Schachfeldquadrat zu verlassen und somit alle EAMs auf den benachbarten Feldern zu „verletzen“. Er wird dann sofort mit Begriffen wie „gierig“, „egoistisch“, „unsolidarisch“ etc. betitelt. Wirtschaftliche Tätigkeit ist ein Paradebeispiel für diese Art der „Aggression“, unter der dann nicht nur die EAMs, sondern auch „die Umwelt“ leidet, der ebenfalls null Resilienz zugeschrieben wird, wir könnten also von der „erbärmlichsten anzunehmenden Umwelt“ sprechen. Vor allem die Vertreter von angeblich „privilegierten“ Gruppen (wie weißen Männern) müssen aber gar nicht so weit gehen, ihr eigenes Geld verdienen zu wollen, nein, selbst ihr unbewusstes, alltägliches Verhalten (Gesten und Worte) verletzen schon die Schachfeldquadrate der umgebenden EAMs – das heißt dann „Mikroaggression“.
Die Vergöttlichung des Staats
Aus diesem abgründigen Menschenbild, hier in zwei Modellen vorgetragen, folgt dann logischerweise der Wunsch, der Staat solle doch (im übertragenen Sinne) auf die Kanten jedes dieser kleinen Quadrate Wände bauen, wie bei einer Gummizelle, um die Freiheit der Anderen vor dem Einzelnen, oder genauer gesagt die Freiheit aller Menschen vor allen anderen Menschen zu schützen. Das damit dann jeder in einem Gefängnis hocken würde, ist wenig überraschend, ist es doch ohnehin der Wunsch von Sozialisten aller Couleur! Es ist einfach nur besonders perfide, das dann auch noch als Freiheit zu bezeichnen! Dazu können wir wieder Orwell heranziehen, diesmal einen der Wahlsprüche der totalitären Partei aus „1984“ (veröffentlicht 1949): „Freedom is Slavery“, Freiheit ist Sklaverei.
Der Trick dabei ist, dass der Staat vergöttlicht wird: Während dem eigenverantwortlich handelnden „schlimmsten anzunehmenden Aggressor“ Egoismus, Blindheit (für die eigenen Bedürfnisse und die von anderen) und Fehlbarkeit angedichtet wird, wird der Staat als uneigennützig, allwissend und perfekt beschrieben. Dabei besteht der Staat offensichtlich auch nur aus Menschen, die, wie alle Menschen, ebenfalls ihren Egoismus, eine gewisse Blindheit und Fehlbarkeit niemals komplett überwinden können.
Tatsächlich sind die egoistischen Profiteure einer solchen Politik offensichtlich: Zentralistische Machthaber, die bestimmen, wo die Gummizellenwände um die Menschen verlaufen. Sie bestimmen das aus fernen Orten wie Berlin und Brüssel oder dem Ort, an dem das jeweils nächste internationale Klimaabkommen unterzeichnet wird. Sekundär profitieren auch die ihnen untergebenen Staatsdiener, die die Gummizellenwände verwalten, sowie privatwirtschaftliche Unternehmen, die gut an diese Wände angepasst sind. Tertiär profitieren auch die selbsternannten Blockwarte, die sich moralisch überlegen und mächtig fühlen können, wenn sie jemanden, der die Gummizellenwand um sein Schachfeldquadrat zu durchbrechen versucht, beim Staat denunzieren können.
Wir können also zusammenfassen: Wenn die Freiheit des Einzelnen dort aufhören würde, wo die des Anderen beginnt, wäre niemand frei (außer vielleicht einer kleinen politischen und monopolistisch-wirtschaftlichen Elite, siehe auch mein Text [hier]).
Freiheit ist ein Plussummenspiel
Wir benötigen deswegen ein anderes Verständnis von Freiheit, eines, das zu einer freiheitlichen Gesellschaft passt und diese fördert.
Denn es ist zwar richtig, dass die Interaktion zwischen Menschen manchmal einen Angriff auf die Freiheit von einem der Beteiligten darstellt. Klassische Beispiele sind Gewaltverbrechen oder Betrug. Diese stellten jedoch nur einen verschwindend geringen Anteil aller Interaktionen dar.
Die allermeisten Situationen, bei denen Menschen interagieren, finden im Rahmen irgendeiner Art von Kooperation statt, steigern also die Freiheit beider Beteiligten. Das beginnt bei banalen Dingen wie dem Kauf eines Brötchens beim Bäcker: Der Käufer hat danach ein Brötchen, der Bäcker mehr Geld. Es setzt sich über komplexe berufliche Zusammenarbeit mit Kollegen, Geschäftspartnern und Kunden fort, mit der Lebensunterhalte bestritten werden können, also Freiheit gewonnen werden kann.
Aber auch im privaten Bereich entstehen Freundschaften, Beziehungen, Familien, Vereine und Ortsgemeinschaften durch die freie Interaktion von Individuen. Diese Strukturen erhöhen im Normalfall die Freiheit des Einzelnen auf vielfältige Art: Sie entlasten durch Arbeitsteilung, sie liefern Kooperationspartner und Multiplikationseffekte, mit denen der Einzelne mehr erreichen kann, und nicht zuletzt helfen sie dem Einzelnen dabei, seinen Charakter und damit seine Individualität festzulegen und zu bewahren.
Wir können es so zusammenfassen, dass Linksgrüne die freie Interaktion zwischen Menschen bestenfalls als Nullsummenspiel sehen: Was der eine an Freiheit gewinnt, muss der andere verlieren. Das ist wenig verwunderlich, schließlich sehen sie die Wirtschaft auch so. Beispielsweise ist ihnen die Vorstellung fremd, dass ein Vermieter und ein Mieter einen beiderseitigen Vorteil durch ihre geschäftliche Beziehung erlangen könnten, also beide profitieren könnten, sie glauben, der Vermieter müsse den Mieter „ausbeuten“, um Profit zu machen. Dabei sind Win-Win-Situationen nicht nur das häufigste Resultat freier menschlicher Interaktion, sondern auch normalerweise auch schon vorher absehbar: Beide Interaktionspartner können mit recht guter Wahrscheinlichkeit einen Freiheitsgewinn erwarten und werden in einer freien Gesellschaft dadurch motiviert, überhaupt erst in Interaktion zu treten. Denn es zwingt sie ja niemand dazu!
Der Pseudo-Kant-Spruch lebt von der Illusion, es könnte an einem zentralen Ort, z. B. in den Expertengremien einer Regierung, allgemeingültig entschieden werden, wann „ein Mensch“ in seiner Freiheit bedroht ist. Das verkennt die Komplexität der Individuen und ihrer Lebenssituationen! Wenn „der Einzelne“ frei und proaktiv handelt, wird „der Andere“ ebenso individuell reagieren, unabhängig davon, ob irgendwelche Zentralisten mit ihren starren, unterkomplexen Prinzipien glauben, seine Freiheit sei von der Handlung beeinträchtigt.
Er hat für diese Reaktion jede Menge Möglichkeiten, es ist kein Schwarz-Weiß von kompletter Zustimmung oder Ablehnung bezüglich der Handlung des Anderen. Beispielsweise kann er einen Ausgleich fordern, z. B. finanzieller Natur oder in Form eines späterem Gegengefallens.
Durch diesen dynamischen, lokalen Prozess der Kooperation und des Interessenausgleichs ist eine viel komplexere Informationsverarbeitung vor Ort möglich als in fernen Sitzungsräumen und Amtszimmern, und sowohl „der Einzelne“ als auch „der Andere“ sind deutlich besser repräsentiert.
Kurz: Freiheit ist kein Nullsummen-, sondern ein Plussummenspiel: Aus Freiheit erwächst mehr Freiheit, zwar nicht immer für alle Beteiligten, aber doch im Durchschnitt und somit mit der Zeit immer mehr.
Gießen wir das doch in einen neuen, einer freien Gesellschaft angemessenen Spruch: „Die Freiheit des Einzelnen geht noch lange weiter, wo die des Anderen beginnt!“