Eine Anekdote besagt, dass während des Vietnamkriegs der US-amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara (1916-2009) dabei war, eine Liste aus Messwerten anzufertigen, mit der er den Verlauf des Krieges wissenschaftlich verfolgen wollte, um im Zweifel nachzubessern. Metriken wie das Verhältnis der feindlichen Gefallenen zu den eigenen Gefallenen zu optimieren, wurde demnach als der Schlüssel zum Sieg angesehen (Quelle: englisches Wikipedia, Artikel „McNamara fallacy“).
Der Air-Force-General Edward Lansdale hätte dieser Anekdote zufolge eingewandt, dass die Liste die unter den Menschen im ländlichen Raum Vietnams herrschende Stimmung außer Acht ließe. McNamara hätte den Punkt mit Bleistift auf die Liste geschrieben, ihn dann aber wieder ausradiert und dem General gesagt, er könne es nicht messen, also könne es nicht wichtig sein.
Die deutsche Corona-Politik, vorangetrieben nicht nur von der Regierung, sondern auch von vielen Medienvertretern und Wissenschaftlern und wohlwollend von der Grünen „Opposition“ im Bundestag begleitet, wirkt ziemlich ähnlich: Man hat eine Liste mit leicht messbaren und noch dazu politisch genehmen Dingen wie Inzidenz, Hospitalisierungsrate, Intensivbettenauslastung etc. Wenn jemand kommt und vom drohenden Zusammenhang ganzer Wirtschaftszweige, von psychologischen und gesundheitlichen Schäden durch Arbeitslosigkeit, finanziellen Schäden und Isolation oder von der Überlastung der Eltern und Kinder spricht, wird das gönnerhaft danebengeschrieben, aber als nicht messbar gleich wieder wegradiert. Es ist demnach nicht so viel wert wie die „quantitativen“ Argumenten, die, oh Wunder, alle in dieselbe Richtung weisen: Alarm, Beschränkungen und Lockdown.
Dieser Fehlschluss heißt McNamara-Fehlschluss. Seine Problematik wird im englischen Wikipedia-Artikel durch ein Zitat des Autors und Psychologieprofessors Daniel Yankelovich (1924-2017) auf den Punkt gebracht:
The first step is to measure whatever can be easily measured. This is OK as far as it goes. The second step is to disregard that which can’t be easily measured or to give it an arbitrary quantitative value. This is artificial and misleading. The third step is to presume that what can’t be measured easily really isn’t important. This is blindness. The fourth step is to say that what can’t be easily measured really doesn’t exist. This is suicide.
Daniel Yankelovich
Der erste Schritt ist, zu messen, was auch immer leicht gemessen werden kann. Das ist so weit in Ordnung. Der zweite Schritt ist, das, was nicht leicht gemessen werden kann, außer Acht zu lassen oder ihm einen beliebigen quantitativen Wert zu zuzuweisen. Das ist künstlich und irreführend. Der dritte Schritt ist, anzunehmen, das, was nicht leicht gemessen werden kann, sei eigentlich nicht wichtig. Das ist Blindheit. Der vierte Schritt ist, zu sagen, das was nicht leicht gemessen werden kann, würde eigentlich nicht existieren. Das ist Selbstmord.
Meine Übersetzung
Obwohl Yankelovich das hier auf Firmen bezog (das Zitat entstammt dem Buch „Corporate Priorities: A continuing study of the new demands on business“, 1972), ist es nicht nur für ein Unternehmen, sondern auch für ein ganzes Land Selbstmord, wenn der Entscheidungsprozess diesem Fehlschluss aufsitzt.
Denn es ist offensichtlich, dass die oben beschriebenen nicht so leicht zahlenmäßig messbaren Effekte nicht bloß existieren, sondern mit weiteren Beschränkungen, weiterem Lockdown und weiterer Unsicherheit schlimmer werden.
Das wird klar, wenn man sowohl gegen Corona gerichtete Maßnahmen als auch deren Kollateralschäden auf Freiheit, Wirtschaft und Menschen in Entropie umrechnet.
Entropie hat entscheidende Bedeutung für Lebewesen, wie Erwin Schrödinger (1887-1961) in seinem Buch „What is Life?“ (1944) beschrieb, in welchem der berühmte Physiker sich mit biologischen Fragestellungen beschäftigt.
Entropie kann grob als ein Maß für die Unordnung beschrieben werden: Je stärker die Teilchen eines beliebigen Systems, zum Beispiel eines Lebewesens, zufällig durchmischt sind, desto höher ist die Entropie. Sich selbst überlassene Systeme streben maximaler Entropie zu, betrachten Sie beispielsweise, was passiert, wenn man Tinte oder einen Zuckerwürfel in ein Wasserglas gibt: Am Anfang befindet sich an einem bestimmten Ort mehr Tinte oder mehr Zucker als im Rest des Glases, wir haben also keine komplette Durchmischung, die Entropie ist demnach niedriger, als sie sein könnte. Das ändert sich aber zusehends, und schnell ist der gesamte Wasserkörper überall mehr oder weniger gleich blau oder gleich süß.
Lebewesen gelingt es aber, das Eintreten dieser zufälligen Durchmischung bis zu ihrem Tod hinauszuzögern.
Und das ist eine große Leistung! Hierzu schrieb Schrödinger:
Every process, event, happening -call it what you will; in a word, everything that is going on in Nature means an increase of the entropy of the part of the world where it is going on. Thus a living organism continually increases its entropy -or, as you may say, produces positive entropy -and thus tends to approach the dangerous state of maximum entropy, which is of death. It can only keep aloof from it, i.e. alive, by continually drawing from its environment negative entropy -which is something very positive as we shall immediately see. What an organism feeds upon is negative entropy. Or, to put it less paradoxically, the essential thing in metabolism is that the organism succeeds in freeing itself from all the entropy it cannot help producing while alive.
Erwin Schrödinger
Jeder Prozess, jedes Ereignis, Geschehnis – nennen Sie es wie Sie wollen; in einem Wort, alles was in der Natur abläuft, bedeutet eine Erhöhung der Entropie in dem Teil der Welt wo es abläuft. Das heißt ein lebender Organismus erhöht ständig seine Entropie – oder, wie Sie sagen könnten, produziert positive Entropie – und neigt deswegen dazu, sich dem gefährlichen Zustand maximaler Entropie zu nähern, dem Zustand des Todes. Er kann davon nur wegbleiben, also lebendig, indem er seiner Umgebung ständig negative Entropie entzieht – was etwas sehr Positives ist, wie wir sofort sehen werden. Ein Organismus ernährt sich von negativer Entropie. Oder, um es weniger paradox auszudrücken, der essentielle Aspekt des Stoffwechsels ist, dass ein Organismus Erfolg damit hat, sich selbst von all der Entropie zu befreien, die er unausweichlich produziert, während er am Leben ist.
Meine Übersetzung
Den Menschen gelingt dieses Trinken von negativer Entropie aus dem Rest der Welt (man könnte umgekehrt auch sagen die Ableitung von Entropie an den Rest der Welt) ausgezeichnet, und nur deswegen gibt es inzwischen so viele Menschen, die immer gesünder und immer älter werden können. Diese Ableitung von Unordnung bzw. dieser Aufbau von Ordnung in unseren Körpern gelingt uns durch unsere immer leistungsfähigere Wirtschaft und Technologie zunehmend besser als unseren Vorfahren.
Nun ist die Umgebung des Coronavirus allerdings der menschliche Körper, und entsprechend erhöht das Virus die Entropie in menschlichen Körpern, um damit für eine Erhöhung seiner Ordnung, nämlich für die eigene Vermehrung, zu bezahlen.
Die aktuellen Maßnahmen wie Veranstaltungsverbote, Ladenschließungen und Reisebeschränkungen dienen dazu, dem Virus möglichst viele menschliche Körper, deren Ordnung es ausnutzen könnte, zu entziehen, und somit die Entropie in unseren Körpern niedrig halten zu können.
Das ist jedoch eine Gratwanderung, denn auch diese Maßnahmen erhöhen die Entropie in uns: Sie stören die wirtschaftlichen und sozialen Tätigkeiten, durch die wir normalerweise Entropie ableiten. Hält man dies zu lange und zu starr aufrecht, erntet man mehr Unordnung, als das Virus je anrichten könnte.
Die Schlüsselstellung kommt der Wirtschaft zu, denn wirtschaftliche Tätigkeiten versorgen unsere Körper mit dem Großteil ihrer lebenswichtigen Ordnung. Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände, aber auch die Gebäude, in denen wir leben und arbeiten, sind nichts anderes als Teilchen, die sorgfältig durch wirtschaftliche Tätigkeit in eine für uns nutzbare Ordnung gebracht wurden, und auch Dienstleistungen ordnen Teilchen. Gleiches gilt natürlich auch für vergleichbare, aber unentgeltliche „Dienstleistungen“, wie wenn Eltern ihren Kindern Mahlzeiten bereitstellen.
Aber auch soziale Dinge wie die Interaktion mit anderen Menschen helfen uns bei der Entropieableitung, beispielsweise ordnen soziale Kontakte die Teilchen unseres Gehirns, indem sie uns als Referenz dienen und uns in Erinnerung rufen, wer wir sind.
Sowohl im wirtschaftlichen als auch im sozialen Bereich haben die jahrelangen Corona-Maßnahmen zu einer riesigen Akkumulation von Entropie geführt, die in den mathematischen Modellen der Bundesregierung und ihrer Experten zugunsten von „einfacheren“ Messwerten wie den oben erwähnten sträflich vernachlässigt wird. Durch die Weigerung, diese Probleme quantitativ zu erfassen, kann man weitere Corona-Maßnahmen immer noch so begründen wie zu Beginn der Pandemie, eben mit Inzidenz, Hospitalisierungsrate und Intensivbettenbelegung, obwohl die wirtschaftlichen und sozialen Schäden weiterer Corona-Maßnahmen durch die in diesen Bereichen akkumulierte Entropie deutlich, deutlich größer sind als zu Beginn der Pandemie.
Dieser McNamara-Fehlschluss muss aufhören! Öffnungen nach englischem Vorbild sind der einzige richtige Weg, um die freiheitlichen Mechanismen der Entropieableitung in Wirtschaft und Gesellschaft wieder zu aktivieren.
Weitere Lektüre:
Mehr zur Problematik einfacher Daten in der Politik: https://dezentralismus.de/2021/07/25/inzidenz-und-co-zahlenwerte-als-symbole-der-symbolpolitik/
Warum Freiheit nicht einfach unterbrochen und neu gestartet werden kann: https://dezentralismus.de/2021/07/25/das-leere-versprechen-von-freiheit-in-der-zukunft/
Mehr zu Entropie in Leben und Wirtschaft: Mein Buch „Freiheit ohne freien Willen – Liberalkonservative Denkansätze für das 21. Jahrhundert“
Wikipedia zum McNamara-Fehlschluss: https://en.wikipedia.org/wiki/McNamara_fallacy
Erwin Schrödinger, “What Is Life? The Physical Aspect of the Living Cell”, Cambridge University Press, 1944